Das heutige, schalenförmig aufgebaute Programm wird von Johann Sebastian Bachs Praeludium und Fuge C-Dur umrahmt wie in einer Messe. Das Praeludium ist nur aus wenigen Motiven gefertigt und besticht durch Einheit in der Vielfalt. Das tänzerische, aufsteigende Tonleitermotiv im 9/8-Takt gab dem Praeludium auch den Vulgonamen „Himmelfahrtspräludium“. In der Fuge erklingt das eintaktige Thema 46 Mal und besticht durch die Vielfalt in der Einheit. Praeludium und Fuge bilden hier ein Werkpaar, das durch die ähnliche formale Dramatik einen groß angelegten Spannungsbogen bildet.
Im Zentrum erklingt Bachs „Pièce d’Orgue“, ein gleichsam kühnes wie einzigartig in seiner Form dastehendes Werk, das Bach als profunden Kenner der französischen Orgelmusik seiner Zeit ausweist. Die virtuosen Girlanden des ersten und die harmonische Kühnheit des letzten Teils scheinen durch den stylus phantasticus geprägt zu sein. Der 5-stimmige, recht ausgedehnte Mittelteil scheint sich an dem französischen Vorbild des homophonen Grand plein jeu (Großes Mixturenplenum) zu orientieren.
Dass Bach Kompositionen von Couperin und besonders dessen Verzierungstabellen schätzte, ist in den Französischen Suiten aus den 1720er Jahren erkennbar. Zelter und Goethe schrieben in ihrem Briefwechsel von „französischem Schaum“ und „deutschem Grundelement“. Von de Grigny, der oft auch der französische Bach genannt wird, hat Bach eine Abschrift von dessen Komposition „Veni creator“ gefertigt.
Von Messiaen erklingen zwei monumentale Orgelwerke, jeweils vom Beginn und Ende seines kompositorischen Schaffens. Die „Apparition“ schildert die Erscheinung der ewigen Kirche. Seinem Orgelwerk fügte Messiaen ein eigenes Gedicht hinzu: „Gebaut aus lebendigen Steinen, gebaut aus den Steinen des Himmels, erscheint sie am Firmament: Es ist die Braut des Lammes! Es ist die himmlische Kirche, gebaut aus den Steinen des Himmels, den Seelen der Auserwählten. Sie sind in Gott und Gott ist in ihnen für alle Ewigkeit des Himmels!“
Zu seinem Werk „Resurrection“ schreibt Messiaen: „Christus erhebt sich plötzlich, in der ganzen Kraft seiner Herrlichkeit, mit dem Fortissimo der Orgel und leuchtenden Akkorden, in denen alle Regenbogenfarben strahlen.“
Meine persönliche Affinität zur französischen Orgelmusik liegt auch darin begründet, dass ich Jean Langlais in Paris in der Schola Cantorum live hören und später auch kurz sprechen durfte. Sein „Gesang des Friedens“ aus dem Jahr 1942 ist einer Schülerin gewidmet, deren Charaktergleichmaß Langlais sehr bewunderte.
Zudem hatte ich die Gelegenheit während einer Samstagsmesse in Sacré-Coeur neben Naji Hakim auf der Orgelbank sitzen zu dürfen. 2016 durfte ich sein Werk „Adoration“ für Sopran, Flöte und Orgel uraufführen, das hier in der Lutherkirche seine zweite Aufführung erfuhr. „Aalaiki’ssalaam“ wurde durch die tragischen Ereignisse im Mittleren Osten und vor allem im Libanon im Sommer 2006 inspiriert. Es möchte ein Zeugnis von Frieden und Freude sein. Alaiki’ssalaam (Friede sei mit dir) ist eine maronitische marianische Melodie.
Boëly hat sich erkennbar mit den Bachschen Orgelwerken auseinandergesetzt. Der Inhalt des Chorals „Werde munter, mein Gemüte“ benutzt ebenso die Metapher des Abends wie das Erlebnis der Emmausjünger.
Als Meisterwerk der Choralbearbeitungen aus der Feder von Johann Sebastian Bachgelten die sog. Schübler-Choräle aus dem Jahre 1749. Der Choral „Ach bleib bei uns“ stammt aus der Kantate Nr. 6 „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ für den 2. Osterfesttag. Bach führte sie in Leipzig am 2. April 1725 zum ersten Mal auf. Die textliche Grundlage (vgl. EG 246) lieferte u.a. auch Philipp Melanchthon, der 1529 am Marburger Religionsgespräch teilnahm.
„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ, weil es nun Abend worden ist,
dein göttlich Wort, das helle Licht, lass ja bei uns auslöschen nicht.
In dieser letzt’n betrübten Zeit verleih uns, Herr, Beständigkeit,
dass wir dein Wort und Sakrament rein b’halten bis an unser End.“
Jürgen Poggel, im Mai 2022