Bach und die Franzosen – Orgelmusikalische Beeinflussungen zwischen Frankreich und Deutschland
Zu schön
wäre die Geschichte, wenn sie tatsächlich wahr wäre. Ein französischer
Cembalist von Weltruf wird im Jahre 1717 nach Dresden geladen zu einem
Wettbewerb, um sich mit dem seinerzeit stärksten deutschen Clavierspieler zu
messen, nämlich Johann Sebastian Bach. Der Legende nach ist der französische
Cembalist umgehend und kampflos aus Dresden abgereist, als er Bach beim
Einspielen gehört haben solle: er hieß Louis Marchand.
Das
kontrapunktische Verarbeiten von mehreren Themen, z.B. in einer Fuge war nicht
unbedingt Stil von weiten Bereichen der barocken französischen Orgelmusik.
Marchands Grand
Dialogue zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Werke der zumeist
fünfmanualigen Orgeln miteinander in Dialog gebracht werden: sie sprechen also
miteinander. Aber auch innerhalb der einzelnen, rhapsodisch aneinandergefügten
Sätze, herrschen dialogisierende Elemente wie Frage und Antwort oder Aussage
und Echo vor. Brillant. Französischer Glamour!
Johann
Sebastian Bach kannte definitiv Orgelwerke von „Couperin“ und von „de
Grigny“, die er zum Teil eigenhändig abgeschrieben hat. In der Fantasie BWV 562
zeigt Bach, wie er als Kontrapunktiker den französischen Stil adaptiert: ein
eintaktiges Motiv, gespickt mit Phrasierungen französischer Convenience, ist
bis auf den Schluss in jedem Takt präsent.
Bei der
Fantasie BWV 572 lassen Titel und die Satzbezeichnungen keinen anderen Schluss
zu, dass Bach sich hier im französischen Stil beweisen wollte. Im ersten Satz
erklingt eine einstimmige Triolengirlande, die virtuos den gesamten Umfang der
Klaviatur umfasst. Danach entwickelt Bach eine Fantasie, die vier Themen kontrapunktisch
verwebt. Der Schlusssatz ist in seiner chromatisch abwärtsführenden
Pedalbewegung und den darüber entwickelten Sextolen in der Manualstimme an
harmonischer Kühnheit unübertroffen und endet in einem grandiosen Finale.
Viele
Organisten in Paris und in Frankreich spielten und komponierten seinerzeit eher
so wie Marchand. Den Kirchenbesuchern gefiel dieser musikalische Stil, wie aus
etlichen Quellen hervor geht. Mit Alexandre-Pierre-François Boëly kommt jemand in Erscheinung,
der in Paris an seiner Orgel ein großes, deutsches Pedal einbauen ließ, um
Bachsche Werke aufführen zu können. Sein literarisch zu fades Spiel führte zu
seiner Entlassung.
C.
Franck greift in seinem Stück „Offertoire“ auf das Grundthema der Bachschen
Passacaglia BWV 581 auf, das schon von André Raison (1668 – 1719) bekannt ist.
Das Offertoire stellt in der katholischen Liturgie die Begleitmusik zur
Bereitung der Gaben dar und ist so komponiert, dass je nach liturgischem Ablauf,
die Orgelmusik verstummen könne.
Das „Prière à Notre-Dame“ stammt aus der „Suite gothique“ von
Léon Boëllmann
aus dem Jahre 1895. Nach dem Brand der
zentralen Kathedrale Frankreichs, liegt es nahe, dem fast völlig zerstörten
gotischen Gebäude mit seiner „Lieben Frau“ musikalisch zu gedenken.
Louis Vierne
war lange Jahre Organist an der Pariser Hauptkirche mit ihrer berühmten
Cavaillé-Coll-Orgel. Fast völlig erblindet, erlernte er das Orgelspiel und hatte
zudem als phänomenaler Improvisator die Möglichkeit, seine Gedanken selbst in
Notenschrift zu fixieren. Sein Orgelstück „Cathédrales“ ist eine akustische
Kirchenführung für alle Nichtsehenden. Alle Sehenden dürfen durchaus die Augen
schließen, wenn es vom Hauptportal in die Kathedrale hinein geht. Die großen
Stützmauern und der leicht wackelnde Gang werden ebenso erfahrbar wie die
Echowirkungen, die über die Schallwirkungen zur Größenwahrnehmung bei blinden
Mitmenschen sorgen können. Der Kirchgang findet seinen Höhepunkt unterhalb der
Vierungskuppel, als quasi aus vier Himmelsrichtungen das Hauptthema erklingt
und sich ein großartiger Höhepunkt entwickelt. Schall und Musik aus allen
Richtungen. Den Schluss hat Vierne so gestaltet, dass man mit dem Gefühl die Kathedrale
verlässt, indem man aus der Sakristei ganz leise und ohne große Umstände heraus
begleitet wird.
Zu seiner 2016 entstandenen 4. Orgelsymphonie: „Die Marianische“ schreibt Andreas Willscher:
„Die Sätze der vorliegenden Orgel-Symphonie Nr. 4 basieren entweder auf gregorianischen Motiven oder zeichnen mit musikalisch-stimmungsmäßigen Mitteln bestimmte, die Gottesmutter auszeichnende Attribute nach.
Das
markante Anfangsmotiv des Salve Regina erklingt zu Beginn des ersten Satzes
zunächst im Pedal und findet seine Fortsetzung im Manual. Im anschließenden
Durchführungsteil erklingt das Hauptmotiv in verschiedenen Tonarten, um in der
abschließenden Coda mit seinen Schlusstönen im Pedal letztmalig zitiert zu
werden.
Der zweite
Satz – Regina pacis – ist als ruhige Meditation gestaltet. Ein Orgelpunkt auf C
erklingt während des gesamten Satzes. In modalem Gestus gestaltet, verwendet
das Stück in einigen Takten die (fast schwerelos wirkende) Ganztonleiter.
Der dritte
Satz ist mit Mater Dolorosa überschrieben. Spannungsgeladene Akkorde zeichnen
den Schmerz der Gottesmutter über das Leiden ihres Sohnes nach. Dieser Schmerz
findet auch Ausdruck in den chromatischen Elementen zu Beginn und in der Coda.
Der vierte
Satz – Ave Maria – stellt eine mystische Meditation mit Anklängen an das
gregorianische Ave Maria, die sich aber dem meditativen Duktus des Stückes
unterordnen.
Das
gregorianische Thema des fünften und letzten Satzes – Ave maris stella – tritt
bereits in der Introduktion deutlich zutage. Es entwickelt sich eine
(rhythmisierte) Fughette, an die sich eine Art Carillon anschließt. Das
Anfangsmotiv erklingt hier im Pedal, umrahmt von ostinaten Figuren. Eine
Steigerung wird erzielt durch die mehrfache Verkürzung der Notenwerte in den
Begleitstimmen: Halbe – Achtel – Achtel-Triolen – Sechzehntel-Triolen. Ein
majestätisches Finale im Tutti beschließt den Satz und den gesamten Zyklus. […]
Möge dieser kleine Zyklus zu vielen „marianischen“ Anlässen erklingen und
Spielern wie Zuhörern Freude bereiten.“
Jürgen
Poggel; Heinsberg-Kirchhundem