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Konzert am 17. Oktober 2015

Astern

Astern – schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du –
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu.

Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

Gottfried Benn (1886 – 1956)

Konzert am 4. Juli 2015

aus: Die Bettlerschale (1956)

Dreifach so groß wie sonst an Erdentagen
schaut deine Sonne aus der Allmacht her
und dreimal kleiner, als er gestern war,
kniet heut mein Mut aus seiner Ohnmacht auf.

Er will nicht streiten, glost nur vor sich hin.
Dreifaltigkeit und Glaube, Hoffnung, Liebe,
sind hohe Vögel, die vom Gnadenbaum
die leeren Hülsen über mich verstreuen.

Gib mir ein Drittel nur von einem Korn!
Ich will auch das noch mit den armen Seelen
und allen Traurigen auf Erden teilen,
gib mir die Liebe, Herr, mein täglich Brot.

Dreimal so stark wie diese deine Sonne
wird dann mein Mut mit aller Schwermut streiten
und wird die Taube der Dreifaltigkeit
durch das Gewässer dieser Ohnmacht tragen.

Christine Lavant (4. Juli 1915 – 7. Juni 1973)