Zu Regers Choralfantasie
„Straf mich nicht in deinem Zorn“
op. 40 Nr. 2
Martin Weyer
Max Reger war, obwohl Katholik, dem evangelischen Kirchenlied eng verbunden. Er schrieb 101 Choralvorspiele zum gottesdienstlichen Gebrauch, 7 große „Choralfantasien“ und er setzte in seinen Kompositionen (nicht nur denen für Orgel) häufig Choralzitate ein, die bekenntnishafte Funktion hatten. Im September 1899, also vor seiner Übersiedlung nach München, entstand op.40/2. Wie immer in seinen Choralfantasien schrieb er sorgfältig den jeweils vertonten Text in die Partitur, um den engen Bezug von Wort und Musik zu verdeutlichen. „Die Protestanten wissen garnicht, was sie an ihren Chorälen haben!“ sagte er. Das scheint heute mehr denn je zu gelten, sogar für manche Theologen: Warum denn steht dieses Lied – immerhin auf dem 6. Psalm basierend – heute nicht mehr im Gesangbuch? In dem von 1950 war es noch vertreten. Offenbar meint man, der Gemeinde einen Text (17. Jh.) vom Zorn Gottes nicht mehr zumuten zu können; stattdessen soll sie im Zeichen eines dogmatisch weichgespülten Christentums singen von „Gras und Ufer“ oder vom Stein, der ins Wasser fällt. Es ist kein Zufall, daß solche Texte und Melodien keinen heutigen Komponisten mehr inspirieren.
Reger verwendete folgende Strophen in seiner Choralphantasie:
1. Straf mich nicht in deinem Zorn / großer Gott, verschone.
Ach, laß mich nicht sein verlorn / nach Verdienst nicht lohne.
Hat die Sünd´ dich entzündt / laß um Christi willen / deinen Zorn sich stillen.
2. Herr, wer denkt im Tode dein, / wer denkt in der Höllen?
Rette mich aus jener Pein / der verdammten Seelen,
daß ich Dir für und für / dort an jenem Tage / höchster Gott, Lob sage.
4. Ach, sieh mein Gebeine an / wie sie all erstarren,
meine Seele gar nicht kann / deiner Hilfe harren;
ich verschmacht, Tag und Nacht / muß mein Lager fließen / von den Tränengüssen.
5. Ach, ich bin so müd und matt / von den schweren Plagen;
mein Herz ist der Seufzer satt, / die nach Hilfe fragen.
Wie so lang machst du bang / meiner armen Seele / in der Schwermutshöhle!
6. Weicht, ihr Feinde, weicht von mir / Gott erhört mein Beten!
Nunmehr darf ich mit Begier / vor sein Antlitz treten.
Teufel, weich! Hölle, fleuch! / Was mich je gekränket, hat mir Gott geschenket.
7. Vater, dir sei ewig Preis /hier und auch dort oben.
wie auch Christo gleicherweis, / der allzeit zu loben.
Heilger Geist, sei gepreist /hoch gerühmt, geehret / daß du mich erhöret.
Als Reger im Juni 1898 schwer erkrankt und als Komponist zunächst gescheitert in sein Elternhaus nach Weiden zurückkehrte, waren ihm die ersten Strophen dieses Chorals sicher aus der Seele gesprochen. Bachs Musik wurde ihm zum Heilmittel; in Weiden entstanden u. a. die Orgelwerke bis op. 59. Als er sich drei Jahre später nach München aufmachte, dürfte er eher die 5. und 6. Strophe
in Herz und Kopf gehabt haben.
Die Choralfantasie op.40/2 dauert ca. 14 Minuten (wobei immer auch die Akustik, die Beschaffenheit der Orgel und das Temperament des Organisten eine Rolle spielen). Wie aber kommt Reger mit sechs kurzen Liedstrophen auf eine so relativ lange Zeit? Nehmen Sie jetzt Ihre Uhr zur Hilfe: Die ersten acht Takte (die wegen Tempo- und Lautstärkewechsel schwer mitzuzählen sind) bilden eine Einleitung, die von einem dreitönigen Motiv (=Straf mich nicht) beherrscht wird. Der Kontrast von Reue und Angst bildet den semantischen Hintergrund. (Dauer 1.49 Minuten). – In Takt 9 beginnt die erste Strophe (ab 1.50), der sich die zweite unmittelbar (fortissimo) anschließt (ab ca. 3.23) Die Takte 37 – 40 bilden ein Zwischenspiel, das dreitönige Motiv taucht wieder auf. Die 4. Strophe (ab 4.58) führt die Melodie im Tenor, sie endet im Pianissimo, wiederum erklingt das Dreiton-Motiv, das eine Art Gelenk zwischen den Strophen 1 bis 5 bildet und zugleich „Straf mich nicht“ symbolisiert. Strophe 5 (ab 7.07) bringt die verzierte („kolorierte“) Melodie in der Oberstimme – schwer zu erkennen, bei Reger immer als Mittel emotionaler Intensität verwendet. In jähem Fortissimo (9.27) setzt die Strophe 6 ein: „Weicht ihr Feinde!“, Melodie im Bass, Dreitonmotiv um einen Akkord erweitert. Nachfolgend hellt sich die Harmonik mehr und mehr nach E-Dur auf, das symbolträchtige „negative“ Motiv verschwindet (vgl. Text!): zwischen den Choralzeilen breiten sich Zwischenspiele aus. Die Aussage der letzten Strophe (ab 10.54) bestimmt das musikalische Geschehen. – Auch wenn heute vielleicht die Sekunden- und später sogar die Minuten-Angaben von den hier genannten Zeiten abweichen sollten, kann ein solches „Hören mit der Stopp-Uhr“ nützlich sein.
Regers Musik ist gleichsam doppelgesichtig: Sie ist einmal ohne Bach nicht denkbar; die Bildhaftigkeit Bachscher Musik (Reger über Bachs Choralvorspiele: „Symphonische Dichtungen en miniature“) reizte ihn zur Nachahmung. Andererseits behandelte er die Orgel als ein modernes Orchester, dessen klangliche Flexibilität er an den Werken von Richard Strauss (dem er zwei große Orgelwerke widmete!) bewunderte. Bachs Orgeln waren unvollkommene Instrumente – meinte Reger, der „Fortschrittsmann“ – also müsse er den modernen Orgeln viel mehr abverlangen. Das tat er – fragen Sie den Interpreten…