Martin Luthers Lied „Vater unser im Himmelreich“ von 1539 nimmt als eines seiner Katechismus-Lieder eine Sonderstellung in der lutherischen Kirchenmusikgeschichte ein. Es ist kaum zu vermuten, dass das Lied seit seiner Entstehungszeit häufig gesungen wurde, da der überkommene biblische Text bis heute meist im liturgischen Kontext gesprochen wurde, bzw. wird. Daher wurden die Katechismus-Choräle auch relativ selten als Choralvorspiele vertont.
Sweelinck, Buxtehude und Bach sind da als die bekanntesten Komponisten zu nennen.
Während Buxtehudes Vertonung ganz im Sinne der norddeutschen Barockkunst als figuriertes Choralvorspiel mit obligatem Cantus firmus komponiert wurde, setzt Mendelssohn es als Variationsreihe im ersten Satz seiner 6. Orgelsonate um. Die beiden Folgesätze nehmen die Melodie des Liedes nicht auf.
Mendelssohn verfährt hier genauso wie in seinen übrigen 5 Orgelsonaten, indem er meist schon vorher entstandene Einzelsätze zu Sonaten zusammenfügt. Dabei entsprechen seine Sonaten musikwissenschaftlich gesehen nicht der seit der Klassik bestehenden Sonatenformen.
Peter Cornelius geht mit seinem Liederzyklus einen ganz anderen Weg und entnimmt als Vorlagen jeweils Abschnitte aus der gregorianischen Melodie, welche er thematisch geschickt einbindet. Dabei übernimmt er keine liturgischen Texte, sondern interpretiert diese mit freier Prosa im romantisches Gestus. Anders als Luthers „Vater Unser“ Lied ist die gregorianische Form bis heute in der (Kath.) Kirche recht bekannt. Seit dem zweiten vatikanischen Konzil in den 1970er Jahren, in dessen Folge die jeweiligen Muttersprachen der Länder das Latein mehr und mehr verdrängten, findet sich die Gregorianik zumindest im deutschsprachigen Raum mehr in Klöstern und Kommunitäten, als in Gemeindegottesdiensten wieder.
Martin Forciniti, 10/2023
Siehe auch: „Texte“